Trojanische Pferde

Veils Besuch

von

 Joe R. Lansdale und Andrew Vachss


Leonard betrachtete Veil einen Moment lang ganz genau und meinte dann »Wenn du ein Anwalt bist, dann scheiße ich einen perfekten, runden Haufen auf zwanzig Schritte durch einen Reifen. Mit verbundenen Augen.«

»Ich bin Anwalt«, sagte Veil. »Aber ich werde deine Fähigkeiten für sich sprechen lassen.«

Veil war von durchschnittlicher Größe, hatte dunkles Haar mit einer Spur grau darin und ein gesundes Auge. Das andere wanderte ein wenig umher. Er hatte einen Bart, der als Stahlwolle herhalten konnte und trug einen teuren Anzug, glänzende Schuhe, eine teure Armbanduhr und einen ebensolchen Ring. Er war der Einzige, den ich je gesehen hatte, der die gleiche Art von Präsenz wie Leonard aufwies. Eine Furcht erregende Präsenz.

»Für mich siehst du immer noch nicht wie irgendeine Art von Anwalt aus«, sagte Leonard.

»Er meint das als Kompliment«, sagte ich zu Veil. »Leonard hat nicht gerade eine hohe Meinung von deinen Brüdern an den Gerichtshöfen.«

»Ach, du bist bigott?« fragte Veil freundlich und sah Leonard direkt mit seinem guten Auge an. In der Tat ein sehr schönes Auge - ich erinnerte mich gut daran.

»Was für`n Scheiß redest du da? Anwälte sind in Ordnung. Sie erfüllen ihren Zweck. Man weiß nie, wann man gerne mit einem von ihnen einen Stein auf dem Grund eines Sees beschweren möchte.«  Leonards Tonfall hatte sich von leicht wissbegierig in den eines Mannes verwandelt, der gerne ein Sezieren am lebenden Objekt vornehmen wollte.

»Du denkst, alle Anwälte sind gleich, ja? Aber würde ich behaupten, alle Schwarzen sind gleich, dann wüsstest du sofort über mich Bescheid, nicht wahr?«

»Ich wusste, dass du damit anfangen würdest«, meinte Leonard.

»Nun“, sagte ich, »Ich denke, das läuft doch gut. Was meint ihr, Jungs?«

Veil und Leonard passten vielleicht nicht so gut zusammen wie ich es mir erhofft hatte, aber sie hatten mit Sicherheit ein paar Dinge  gemeinsam. Auf bestimmte Weise waren sie beide Arschlöcher. Ich dagegen existierte natürlich auf einem höheren Niveau.

»Du trägst `nen Armani Anzug, muss dich ein paar tausend Dollar gekostet haben«, sagte Leonard.

»Wenn du einen Laden weißt, wo ich Anzüge wie den hier für einen lausigen Tausender bekomme, werde ich auf meinem Rückweg dort halten und ein paar Dutzend davon mitnehmen«, erwiderte Veil.

»Ja, prima“, meinte Leonard, »Goldene Rolex, Diamantring... Wie viel hast du für all das hingelegt?«

»Das waren Geschenke«, sagte Veil.

»Klar“, meinte Leonard. »Weißt du, wie du aussiehst?«

»Sag`s mir.«

»Du siehst aus wie beim Vorsprechen für einen Mafia Film.«

»Und du siehst aus wie ein Kandidat für die Sträflingskolonne. Was wohl der Grund ist, weshalb ich hier bin.«

»Du willst mich vertreten? Wie willst du das anstellen? Ich weiß vielleicht nicht genau, was du bist, aber auf eines würde ich das Haus verwetten - du bist kein texanischer Anwalt. Zum Teufel, du bist nicht mal Texaner. Punkt.«

»Kein Problem. Ich erledige das einfach pro hac vice.«

»Ich hoffe das ist nicht irgendeine sexuelle Handlung“, sagte Leonard. »Vor allem keine, die dich und mich einbezieht.«

»Es bedeutet, dass ich für einen Fall bei Gericht zugelassen werde. Für  diese eine spezielle Anklage. Natürlich werde ich für die Vorbereitung des Vorbringens einen örtlichen Anwalt benötigen, um ...«

»Gottverdammt, sehe ich für dich aus, als würde ich mich schuldig bekennen? Du sagst jetzt am besten nicht ›ja‹.«

»Vorbringen“ bezieht sich auf die Schriftsätze“ sagte Veil, seine Stimme ein Vorbild an Geduld. »Anträge, Eingaben ... so ein Zeug eben. Wolltest du dich schuldig bekennen, dann bräuchte Hap mich nicht. Übrigens, ich tue das für Hap, nicht für dich.«

»Was macht dich so besonders für Hap?« , fragte Leonard und studierte sorgfältig Veils Gesicht. »Was tust du tatsächlich?«

»Kämpfen«, sagte Veil«.

»Yeah«, sagte ich. »Das kann er«.

»Ja, das können wir zwei auch, und mit einem Gummi könnten wir es uns dabei besorgen, ohne eine Schweinerei zu hinterlassen«, seufzte Leonard. Zu Veil sagte er, »Weißt du, was mein Problem ist? «

»Außer deiner Einstellung, sicher«. ... Du hast ein Crackhaus niedergebrannt. Mindestens zum ... zum wievielten Male war es, zum vierten Mal? Das ist Brandstiftung, Sachbeschädigung, versuchter Mord-«

»Ich hab nicht-«

»Was? Nicht gewusst, dass alle zu Hause waren, als du den Brandanschlag auf das Drecksloch verübt hast? Spielt keine Rolle, die Anklage ist dennoch zulässig«

»Yeah, die können das hier zulassen«, sagte Leonard und machte eine Geste, die zu seinen Worten passte.

»Du siehst einem glatter Zehner unten in Huntsville entgegen«, erklärte ihm Veil. »Ist diese Zusammenfassung deines „Problems“ gut genug?«

»Nein, nicht annähernd«,meinte Leonard. »Das hier ist mein Problem: Du kommt hier rein, trägst für ein paar Tausender Luxuskram, erzählst mir, du wärst ein Kämpfer, aber dein Gesicht sieht aus als hättest du eine Menge Kämpfe mehr verloren, als du gewonnen hast. Du hast keinen blassen Dunst von texanischen Gesetzen, willst aber vor einer hiesigen Jury auftreten. Und das ist nicht mal mein größtes Problem. Weißt du, was mein größtes Problem ist?«

»Ich nehme an, du wirst es mir irgendwann vor Ende der Besuchszeit mitteilen«, erwiderte Veil.

»Mein Problem ist: Warum zu Teufel sollte ich dir vertrauen?«

»Ich vertraue ihm«, sagte ich.

»Ich weiß, Bruder. Und ich vertraue dir. Worauf ich nicht vertraue, ist dein Urteilsvermögen. Das ist beides nicht unbedingt das gleiche«.

»Dann versuch`s damit«, erklärte ihm Veil. »Ein Mord. Und keiner hat darüber ein Wort verloren. Seit fast zwanzig Jahren«.

»Willst du mir sagen, dass du und Hap-?«

»Ich sage dir, dass es einen Mordfall gab.  Keine Verjährung, ja? Noch immer ungelöst. Und niemand spricht«.

»Ich weiß nicht. Ich und Hap stehen einander schon lange sehr nah. Er hätte mir so was erzählt. Ich meine, hätte er jemanden kaltgemacht, dann wüsste ich es“. Leonard wendete sich an mich: »Wär`s nicht so?«

Ich sagte nichts. Veil hatte das Reden übernommen.

Veil beugte sich weit nach vorne, senkte die Stimme. »Hap hat`s nicht getan. Aber Hap weiß alles. Und wenn du die Klappe lange genug hältst, dann wirst du es auch wissen. Dann kannst du entscheiden, wem du traust. Abgemacht? «

Leonard warf Veil einen langen, tiefen Blick zu. »Abgemacht«, sagte er schließlich und lehnte sich zurück, um die Geschichte zu hören.

Veil drehte sich um und sah mich an, und ich verstand das Zeichen, fortzufahren.

 

-2-

»Ich war damals mehr oder weniger Hippie«, sagte ich zu Leonard. „Weißt du noch, als ›love and peace‹  alles für mich war?«

»Das einzige ›piece‹ hinter dem du meines Wissens je her warst, war ein Stück Arsch«, meinte Leonard in liebenswürdiger Weise. »Ich dachte immer, dass du so lange Haare hattest, damit du leichter in Schlägereien verwickelt wirst«.

»Erzähl ihm einfach die verdammte Geschichte«, sagte Veil. »Okay? Ich habe Arbeit zu erledigen und das geht nicht ohne Leonard. Wenn Ihr zwei euch weiter verarscht wird der Wärter wieder zurück gewalzt kommen und- «

»Es war in diesem Haus an der Küste«, sagte ich. »In Oregon. ich wohnte da mit ein paar Leuten«.

»Und ein paar die Leute«  waren natürlich Frauen«.

»Yeah. Ich habe mit verschiedenen Lebensweisen herumexperimentiert. Ich habe dir davon erzählt. Jedenfalls, ich blieb dort nicht lange. Das Haus, es war nicht wie eine Art Kommune oder so was, aber die Leute ... sie kamen und gingen, verstehst du? Also, eines Tages kommt dieser Kerl vorbei. Gutaussehender Typ. Fotograf, hat er gesagt. Den ganzen Van voller Ausrüstung. Er war ein Reisender, arbeitet sich kreuz und quer durchs Land. Machte Fotos für ein Buch, an dem er arbeitete. Er passte ziemlich gut rein. ... er sah halt passend aus. Lange Haare, aber ein wenig gepflegter als der Rest von uns. Weltmännisches Benehmen. Fotografierte viel. Keiner hat sich drum gekümmert. Er übernahm seinen Teil der Arbeit, schmiss ein paar Scheine für die Fressalien in den Topf. Keine große Sache.  Ich war zunächst etwas misstrauisch. Es gab immer mal Fotografen, die eine „Dokumentation“ über uns machen wollten, weißt du? Die meisten wollten Fotos von den Frauen. Vor allem von Sunflower - sie hatte diese Vorstellung, dass Kleidung „hemmend“ sei und so. Mit anderen Worten, sie war schnell dabei die Hüllen fallen zu lassen und ihr Dreieck herumzuzeigen. Doch dieser Typ war wirklich friedlich, sehr ruhig. Ich erinnere mich, dass einer der Typen dort meinte, er hätte eine ruhige Präsenz. Wie das Auge eines Wirbelsturms«.

»Das ist ja verdammt faszinierend«, sagte Leonard, »aber unter Berücksichtigung meiner besonderen Situation frage ich mich, ob du vielleicht zum Punkt kommen könntest? «

Da ich merkte, dass Leonard nie den Teil der Bibel, der von der Geduld als Wert sprach, gelesen hatte, beschleunigte ich das Ganze ein wenig. »Eines Nachts war ich draußen auf dem Hof«, sagte ich. »Meditierend«.

»Masturbierend, meinst du«, erwiderte Leonard.

»Ich war gerade in meiner Kampfsportphase und wollte nicht irgendwas von dem verdammten Marihuana-Qualm in die Augen bekommen. Ich glaube, ich war konservativer wegen so was, als ich es wahrhaben wollte. Es machte mich nervös, nur dabei zu sein. Ich brauchte also etwas Privatsphäre. Ich habe nicht im klassischen Sinn meditiert.  Wollte nur allein mit meinen Gedanken sein, meine Mitte finden«.

»Was dir nicht gelang«, meinte Leonard.

»Ich sitze da so, denke nach, über was auch immer ich gerade nachdenke-«

»`ne Pussy«,  meinte Leonard.

»- und ich öffne die Augen und da ist er. Veil«.

»Das muss dir eine Scheiß-Angst eingejagt haben«, sagte Leonard.

»Er sah ungefähr so aus wie heute«.

»Ja? Hatte er `nen Armani-Anzug an? «

»Natürlich nicht«, sagte ich. »Er sah aus, wie damals jeder andere dort. Der einzige Unterschied war die Pistole«.

»Ich verstehe, dass das deine Aufmerksamkeit erregte«, sagte Leonard.

»Es war dunkel. Und ich kenne mich mit modernen Feuerwaffen nicht aus. Aber das war keins von den Dingern, mit denen ich aufgewachsen war,  Jagdgewehre, Schrotflinten und Revolver. Das war eine wirklich fette Kanone. Ich konnte nicht sagen, ob er auf mich zielte oder nicht. Schließlich entschied ich, dass er sie einfach nur ... hielt. Ich fragte ihn -höflich, sollte ich hinzufügen-  ob ich irgendetwas für ihn tun könne ... und er meinte, ja, in der Tat wäre da was. Was er wollte, waren ein paar Informationen über den Fotografen«.

»Nun, Hippie-Typen unterschieden sich damals nicht sonderlich von Knackis, zumindest dann nicht, wenn es darum, ging den Bullen Informationen zu liefern. Bullen hatten so eine Denkweise, dass du, wenn du lange Haare hattest, vom Mars kamst, um Mama, Apfelkuchen und den American Way zu zerstören«.

»Schließt das Texas mit ein? «, fragte Leonard?

» Ich denke, ja«.

»Nun, ich verstehe, was sie meinen. Auch den Teil mit der Apfeltorte«.

»Ich wusste, dass der Typ kein Bulle war. Und er hat mich auch nicht nach irgendwelchem Zeug wie Beweisen gefragt. Nur, wann der Kerl aufgetaucht war, solche Sachen«.

Leonard gähnte. Manchmal konnte er wirklich sehr primitiv sein. Veil sah aus wie immer. Ruhig.

„Jedenfalls sagte ich gerade, dass ich den Kerl nicht kannte, da ... ich weiß nicht. Irgendwas an seiner Art flößte mir Vertrauen ein«.

»Danke«, sagte Veil. Ich war nicht sicher, ob er sarkastisch war oder nicht.

Ich nickte. „Ich sagte ihm die Wahrheit. Es war keine große Sache. Wie ich schon sagte, er fragte nicht irgendwas Abgedrehtes, dennoch war ich etwas beunruhigt. Ich meine, weißt du, die Kanone and so. Dann machte ich einen dummen Fehler und-«

»Ah, dann ist es also passiert? « fragte Leonard. „Das war der Moment...? «

Ich bewahrte die Ruhe - Leonard beklagte sich stets, dass er das immer bei mir tun müsse- und fuhr fort, als hätte er kein Wort gesagt: » - fragte ihn wie es komme, dass er das alles über diesen Kerl wissen wolle, und dass ich vielleicht lieber nichts sagen sollte, und dass er vielleicht lieber seine Pistole nehmen und gehen sollte. Ich wollte keinen Ärger und die anderen dort ebenso wenig. Also stellt Veil die entscheidende Frage.  Wo ist der Kerl gerade? Ich sagte ihm, er sei irgendwo draußen. Oder vielleicht weg, soweit ich wüsste. So lief das damals. Leute gingen ein und aus wie die Katzen und niemand hat das sonderlich eng gesehen. So waren die Zeiten«.

»Groovy«, meinte Leonard.

»Wir redeten eine Weile, aber, um die Wahrheit zu sagen, ich wusste überhaupt nichts über den Typen, also hatte ich auch nichts Wichtiges zusagen. Aber, weißt du, ich denke man sieht nicht jeden Tag einen Kerl wie Veil mit einer Kanone herumlaufen, die fast so groß ist wie mein Schwanz«.

»Jesus«, sagte Leonard »Du kommst wohl nie von deinem Schwanz los«.

»Nein, er neigt dazu, bei mir zu bleiben«.

»Wie wär´s, wenn du bei der Geschichte bleibst«, meinte Veil, noch immer ruhig, aber mit ein wenig Schärfe in der Stimme.

»Also frage ich Veil, falls es für ihn okay ist, gehe ich wieder ins Hause und hol mir eine Portion Schlaf, und vielleicht könnte er die Kanone runter nehmen, weil sie mich nervös macht. Ich weiß, dass ich die Kanone mehrfach erwähnt hatte. Ich versuchte, mich dort sachte herauszuwinden, weil ich vermutete, dass ein Kerl mit einer Kanone mehr im Sinn hatte, als nur ein wenig zu plaudern. Ich dachte, vielleicht ist er sogar auf Drogen, auch wenn er nicht so aussah. Veil meint „kein Problem“. Aber ich sehe, dass er nicht weg geht, also bewege ich mich nicht. Irgendwie behagt mir die Vorstellung nicht, der Kanone meinen Rücken zuzudrehen, und wir sind ziemlich nahe, und ich denke, kommt er noch etwas näher, dann habe ich vielleicht eine kleine Chance, ihm die Kanone abzunehmen. Egal, wir beide bleiben beieinander. Beobachten uns eingehend, denke ich. Keiner von uns geht irgendwo hin.«

»Genauso wenig wie ich, verdammt« sagte Leonard. »ich glaube, mir wächst Moos auf der Nordseite meines Arschs.«

»In Ordnung, Partner«, sagte ich zu ihm. „kommen wir zum Finale. Ich entschließe mich, nicht ins Haus zu gehen, sondern einfach nur mit Veil da draußen zu sitzen. Wir reden ein wenig über dies und das, über alles außer Kanonen und schweigen ein wenig. Es wird ziemlich spät, ich weiß nicht mehr, vielleicht vier Uhr früh, Wir hören beide einen Motor. Irgendwas fährt in die Einfahrt. Dann hören wir, wie eine Tür sich schließt. Nach etwa einer  weiteren Minute auch die Haustür. Ohne ein Wort zu sagen steht Veil auf und läuft um die Ecke zur Einfahrt. Ich folge ihm. Sogar in diesem Moment glaube ich, ich wäre eine Art Mediator. Dass ich in Ordnung bringen kann, was auch immer los sein mag. Ich war damals verdammt gut darin, die Probleme der Leute in Ordnung zu bringen.«

»Bist du immer noch«, sagte Leonard.

»Jedenfalls steht da der Van von dem Kerl. Schließlich beginne ich zu kapieren, dass Veil nicht nur für ein Attentat aufgekreuzt ist - er ermittelt, und -nun, ich weiß nicht-  aber irgendwie habe ich mich ihm angeschlossen. Trotz seines liebreizenden Charakters hat da etwas zwischen uns ›click‹ gemacht.«

»Liebesgeschichten finde ich wunderbar«,  meinte Leonard.

»Wie auch immer, ich war nicht gerade schockiert, als Veil die Pistole wegnahm, sich eine kleine Taschenlampe zwischen die Zähne klemmte und die Schlösser des Vans von dem Kerl bearbeitete, als hätte er `nen Schlüssel dafür. Wir stiegen beide ein, ganz leise. Hinten, unter einer Plane fanden wir... die Bilder.«

»Der Kerl war ein Erpresser?« fragte Leonard, nun etwas interessierter.

»Es waren Fotos von Kindern«, erklärte ich ihm. Ruhig, so dass er kapierte, welche Art von Fotos ich meinte.

Leonards Gesicht veränderte sich.  Da wusste ich, dass ihm klar wurde, um welche Art von Fotos es sich handelte und dass ihm nicht gefiel, woran er denken musste.

»Ich hatte so etwas vorher noch nie gesehen und ich wusste nicht, dass es so was gibt. Hm, theoretisch ja, glaube ich, aber nicht in Wirklichkeit. Und zu den damaligen Zeiten dachten `ne Menge Leute, dass freie Liebe und Sex für jeden okay wären, Erwachsene, Kids. Menschen die wirklich gar nichts über das Leben wussten und  worum es dabei überhaupt ging; doch ein Blick auf diese Fotos und ich hatte meine Lektion gelernt, eine Lehre, auf die ich gerne verzichtet hätte. Ich bin nie darüber hinweg gekommen.«

»Er also«, sagte ich und nickte rüber zu Veil, »fragt mich, wo der Kerl, dem der Van gehört, schläft. Wo im Haus, meine ich. Ich versuchte ihm zu erklären, wie ein Hippie-Matratzenlager aussieht. Ich konnte nicht sicher sein, wo er war, nicht einmal, bei wem er gerade war, verstehst du? Jedenfalls, Veil schaut mich an, sagt es gäbe gewaltige Schwierigkeiten, wenn sie den Kerl im Haus fänden. Schwierigkeiten für uns, verstehst du? Also fragt er mich, wie es wäre, wenn ich rein ginge und dem Typen sage, dass scheinbar jemand seinen Van aufzubrechen versucht?«

»Ich will dir nichts vormachen. Ich zögerte. Nicht weil mir der Hurensohn irgendwie sympathisch gewesen wäre, sondern weil es nicht meiner Natur entspricht, jemandem einem Stoß in den Rücken zu verpassen. Ich hatte mir gerade überlegt, wie ich mich aus der Sache herauswinde, als Veil mich bat, mir die Bilder noch einmal anzusehen. Genau anzusehen.«

»Der Kerl ist erledigt«, sagte Leonard. »Ein Wichser wie der ist erledigt. Ich kenne dich, Hap. Er ist erledigt.«

Ich nickte Leonard zu. »Yeah«, sagte ich. »Ich ging rein. Hab den Kerl raus gebracht. Er öffnet die Tür seines Vans, setzt sich auf den Fahrersitz. Und da ist Veil, auf dem Beifahrersitz. Veil und die Kanone. Ich bin zurück ins Haus gegangen, hab` aus dem Fenster gesehen. Ich hab den Van starten hören, sah, wie er losfuhr. Den Fotografen habe ich nie wieder gesehen. Und um ehrlich zu sein, ich habe deswegen keine Sekunde schlecht geschlafen. Ich weiß nicht, was das über mich aussagt, aber ich empfand keinen Moment des Bedauerns.«

»Es bedeutet, dass du einen guten Charakter hast«, sagte Veil.

»Was ich gerne wissen würde«, sagte Leonard und sah Veil dabei  »ist, was du mit der Leiche gemacht hast.«

Veil sagte nichts.

Leonard versuchte es erneut. »Du warst ein Killer? Ist es das, was Hap mir erzählen will?«

»Es ist lange her«, erklärte ihm Veil. »Es spielt keine Rolle, oder? Was dagegen eine Rolle spielt: willst du jetzt mit mir reden?«

 

-3-

Der Richter hatte größte Ähnlichkeit mit einem Truthahn--- ein winziger Kopf auf einem langen, verschrumpelten Hals mit kleinen, kalten Augen. Alle standen auf, als er den Saal betrat. Lester Rommerly - der örtliche Anwalt, den ich angeheuert hatte wie Veil es mir auftrug - erklärte dem Richter, dass Veil Leonard vertreten würde. Der Richter sah zu Veil hinunter.

»Wo sind Sie als Anwalt zugelassen, Sir?«

»Im Staat New York, Euer Ehren. Und bei den Bezirksgerichten von New York, New Jersey, Rhode Island, Pennsylvania, Illinois, Michigan, Kalifornien und  Massachusetts.«

»Sie sind wohl ein wenig herumgekommen?«

»Gelegentlich«, entgegnete Veil.

»Nun, Sir, Sie können den Angeklagten hier vertreten. Es verstößt nicht gegen das Gesetz, wie Sie offensichtlich wissen. Ich muss mich dennoch wundern, dass Sie hier herunter gelangt sind.«

Veil sagte nichts. Und nach einer Minute war offensichtlich, dass er auch nichts sagen würde. Er und der Richter sahen sich weiter an.

Dann begann der Prozess.

Die ersten paar Zeugen waren alle öffentliche Bedienstete. Der Typ von der Feuerwehr sagte aus, dass »die Präsenz eines Brandbeschleunigers« der Hinweis auf den Vorsatz war und es sich bei dem Feuer nicht um einen Unfall gehandelt hatte. Veil stand langsam auf, begann zum Zeugenstand hinüber zu gehen, blieb dann stehen. Seine Stimme war leise, reichte aber durch den ganzen Gerichtssaal.

»Officer, haben Sie Erfahrung im Umgang mit Alkohol?«

»Einspruch!« rief der Staatsanwalt.

»Stattgegeben«, sagte der Richter, ohne Veil auch nur anzusehen.

»Officer«, fuhr Veil fort als sei nichts geschehen, »haben Sie Erfahrung im Umgang mit Drogenabhängigen?«

»Einspruch!«, der Staatsanwalt war aufgesprungen, rot angelaufen.

»Anwalt, Sie haben von dieser Art von Befragung abzusehen«, sagte der Richter. »Der Zeuge ist Feuerwehrmann, kein Psychologe.«.

»Ah, verzeihen Sie, Euer Ehren« sagte Veil sanft. »Ich habe mein Begehren falsch ausgedrückt. Lassen Sie es mich noch einmal versuchen: ›Officer‹«, sagte er und wendete seine Aufmerksamkeit wieder dem Zeugen zu. »Mit „Beschleuniger“ meinen Sie etwas wie Benzin oder Kerosin, ist das zutreffend?«

»Ja« erwiderte der Zeuge, vorsichtig angesichts Veils sanftem Ton.

»Hmmm«, meinte Veil. »Es wäre doch ziemlich dämlich, einen Kanister Benzin direkt im Haus zu haben, nicht wahr?«

»Euer Ehren... « bat der Staatsanwalt.

»Nun, ich denke er kann diese Frage beantworten«, sagte der Richter.

»Ja, das wäre es«, sagte der Zeuge. »Aber manche Leute bewahren Kerosin im Haus auf. Zum Heizen und so, wissen Sie?«

»Danke schön, Officer«, sagte Veil, als hätte der Zeuge ihm gerade ein großes Geschenk gemacht. »Und es wäre wohl noch dämlicher, Zigaretten im gleichen Haus zu rauchen, in dem man Benzin ... oder Kerosin aufbewahrt, nicht wahr?«

»Nun, sicher, Ich meine, wenn-«

»Einspruch!« schrie der Staatsanwalt. Es gibt keinen Beweis, dass irgendjemand im Haus Zigaretten geraucht hat!«

»Oh, Verzeihung«, sagte Veil und verbeugte sich leicht. »Sehen Sie die Frage als zurückgezogen an. Officer: Es wäre ziemlich dämlich in einem Haus mit Benzin oder Kerosin Crack zu rauchen, nicht wahr?«

»Euer Ehren!« warf der Staatsanwalt ein. „Das ist ein einziger Täuschungsversuch.  Dieser Mann versucht der Jury einzureden, dass Benzin im Haus war. Und der Officer hat klar bestätigt dass-«

»-dass zum Zeitpunkt, als das Feuer ausbrach, entweder Benzin oder Kerosin im Haus war«, unterbrach Veil.

»Nicht in einem verdammten Kanister«, wiederholte der Staatsanwalt.

»Euer Ehren«, sagte Veil, seine Stimme reinste Vernunft. »Der Zeuge hat ausgesagt, dass er einen verkohlten Benzinkanister im Haus gefunden hat. Es war seine sachverständige Meinung, dass jemand das Benzin überall über den Boden und die Wände geschüttet hat und dann ein Feuerzeug fallen ließ. Ich versuche lediglich herauszufinden, ob der Brand auch auf eine andere Weise entstehen konnte«.

Der Richter, offensichtlich irritiert, sagte »Warum fragen Sie ihn das dann nicht?«

»Nun, Herr Richter, ich war in gewisser Weise gerade dabei. Ich meine, wenn einer von diesen Cracktypen, die dort lebten, vielleicht eingeschlafen ist, nachdem er high war, wissen Sie, so wie immer eingenickt ist,  und die Crack Pfeife auf den Boden fiel und dort ein Kerosinkanister herumlag und-«

»Das reicht!«, fuhr der Richter dazwischen. „Sie wissen ganz genau, Sir, dass das Haus leer war, als die Feuerwehr eintraf.«

»Aber die Feuerwehr war nicht dort, als das Feuer begann, Herr Richter. Vielleicht hat der Junkie die Flammen gespürt und ist um sein Leben gerannt. Ich weiß es nicht. Ich war nicht dort. Und ich dachte die Jury-«

»Die Jury wird ihre gesamte Fragestellung ignorieren, Sir. Und falls Sie nicht weitere Fragen an diesen Zeugen haben, ist er entlassen«

Veil verbeugte sich.

 

-4-

In der Mittagspause fragte ich ihn »Was zum Teufel machst du da? Leonard hat der Polizei bereits gesagt, dass er es war, der den Crackschuppen niedergebrannt hat.«

»Genau. Du hast das Zauberwort gesagt, Crackschuppen. Ich möchte sichergehen, dass die Jury das oft genug hört, das ist alles

»Du denkst, Sie lassen ihn laufen, nur weil-?«

»Wir haben gerade erst angefangen«, erklärte Veil mir.

 

-5-

»Nun, Officer, bevor Sie den Angeklagten verhafteten, hatten Sie ihn da über seine Rechte belehrt?« fragte der Staatsanwalt den Hilfssheriff.

»Ja, Sir, das tat ich.«

»Und der Angeklagte willigte ein, mit Ihnen zu sprechen?«

»Nun, er hat nicht unbedingt „eingewilligt“. Ich meine, das ist ja nicht das erste Mal für unseren guten Leonard. Wir wussten, dass er es war, er wohnt ja auch direkt gegenüber. Als wir also rüber gingen, um ihn zu verhaften, da saß er einfach nur auf der Veranda.«

»Aber er hat Ihnen erzählt, dass er für die Brandstiftung verantwortlich war, ist das nicht zutreffend, Officer?«

»Oh ja, Leonard meinte, er hätte es niedergebrannt. Sagte, er täte es wieder, wenn diese - nun, ich möchte die Worte, die er gebrauchte, nicht wiedergeben - er würde es einfach erneut niederbrennen.«

»Keine weiteren Fragen«, meinte der Staatsanwalt und drehte sich triumphierend um.

»Hat sich der Angeklagte der Verhaftung widersetzt?« begann Veil das Kreuzverhör.

»Überhaupt nicht«, sagte der Hilfssheriff. „Es war klar, dass er auf uns gewartet hatte.«

»Aber wenn er sich der Verhaftung hätte widersetzen wollen, dann hätte er das gekonnt, oder nicht?«

»Ich kapiere nicht, was Sie meinen«, sagte der Hilfssheriff.

»Er meint, dass ich dir in den Arsch treten könnte, ohne ins Schwitzen zu geraten«, meldete Leonard sich freiwillig von der Bank der Verteidigung.

Der Richter hämmerte ein paar Mal.  Leonard zuckte mit den Schultern, als hätte er nur behilflich sein wollen.

»Deputy, waren Sie vertraut mit der Örtlichkeit, an der das Feuer ausbrach?  Waren Sie zuvor schon dort? In Ihrer beruflichen Eigenschaft, meine ich.«, fragte Veil ihn.

»Sicher doch«, antwortete der Hilfssheriff.

»Könnte man sagen, dass es ein Crackschuppen war?«, fragte Veil.

»Ohne  Zweifel. Wir haben dort allein im vergangenen Jahr etwa ein Dutzend Verhaftungen vorgenommen«.

»Gab es welche, seit das Haus abgebrannt ist?«

»Meine Sie... unter der gleichen Adresse? Natürlich nicht.«

»Danke sehr, Officer.«, sagte Veil.

 

-6-

»Doctor, in der Nacht zum Dreizehnten hatten Sie Dienst, ist das zutreffend?«

»Das ist richtig«, sagte der Doktor und schaute Veil an wie jemand, der darauf wartete, dass der Arzt sich einschmiert, um die proktologische Untersuchung zu beginnen-

»Und Ihr Fachgebiet ist Notfallmedizin, ist das ebenfalls richtig?«

»Das ist es.«

»Und wenn Sie sagen „im Dienst“, dann meinen Sie damit, dass Sie in der Notaufnahme sind, ja?«

»Ja, Sir.«

»Tatsächlich sind Sie der Verantwortliche für die Notaufnahme, nicht wahr?«

»Ich bin der verantwortliche Arzt, falls es das ist, was Sie wissen wollen, Sir. Mit der Verwaltung habe ich nichts zu tun.«

»Ich verstehe«, sagte Veil mit der sanften Stimme eines Predigers, der die Heilige Schrift erklärt. »Doktor, haben Sie jemals Patienten mit Verbrennungen behandelt?«

»Selbstverständlich«, schnauzte der Doktor ihn an.

»Es gibt da eine Bandbreite, nicht wahr?  Von Verbrennungen des ersten bis zu jenen dritten Grades, meine ich. Was sind die schlimmsten?«

»Die dritten Grades.«

»Hmm ... Erteilen Sie ihm den dritten Grad.  Ich frage mich, ob daher der Ausdruck -«

»Euer Ehren ...« protestierte der Staatsanwalt erneut.

»Mr. Veil, wohin soll das führen?«, fragte der Richter.

»Mitten hinein in die Wahrheit, Euer Ehren. Und wenn Sie mir erlauben ...«

Der Richter winkte angewidert in Veils Richtung. Veil winkte zurück. Der große Diamant blinkte an seiner Hand, fing die Sonnenstrahlen durch die hohen Fenster des Gerichtssaals ein.  »Doktor, haben Sie in der Nacht zum Dreizehnten irgendjemanden mit Verbrennungen dritten Grades behandelt?«

»Das tat ich nicht.«

»Verbrennungen zweiten Grades?«

»Nein.«

»Wenigstens Verbrennungen ersten Grades?«

»Sie wissen sehr gut, dass das nicht der Fall war, Sir, Sie stellen mir diese Fragen nicht zum ersten Mal.«

»Sicher, ich kenne die Antworten. Aber Sie erzählen es der Jury, nicht mir. Gut, Sie haben die Fotografien von dem Haus, das bis auf die Grundbauern abgebrannt war, gesehen. Kann irgendjemand in diesem Haus gewesen sein, ohne Verbrennungen erlitten zu haben?.«

»Ich wüsste nicht, wie«, ... der Doktor. »Aber das bedeutet nicht-«

„Lassen Sie die Jury entscheiden, was das bedeutet«, schnitt Veil ihm das Wort ab, »Habe ich nicht recht, Herr Richter?«

Der Richter wusste, wann man ihn ans Bein pinkelte, doch nachdem er Veil die genau gleichen Worte während des Prozesses bereits mehrere Dutzend Male gesagt hatte, war er clever genug, den lippenlosen Mund zu halten.

»In Ordnung, Doktor. Wir kommen nun zum Kern Ihrer Aussage. Sehen Sie, der Grund dafür, dass wir Sachverständige anhören liegt darin, dass Sachverständige, nun, sie wissen Sachen, die der Durchschnittsbürger nicht weiß. Und sie erklären sie uns so, dass wir verstehen können, wie die Dinge funktionieren.«

»Euer Ehren, er hält eine Rede!«, beklagte sich der Staatsanwalt zum wohl zweihundertsten Mal.

Doch Veil machte weiter als hätte er kein Wort gehört. »Doktor, können Sie uns erklären was die Pest verursacht?«

Eine der älteren Damen in der Jury japste, als Veil »die Pest« sagte, doch der Doktor fuhr einfach fort: »Nun, eigentlich wird sie durch Flöhe verursacht, die die primären Überträger sind.«

»Flöhe? Und ich dachte immer, sie würde durch Ratten übertragen«, erwiderte Veil und drehte sich zur Jury um,  als ob er sie alle mit seiner Ansicht umarmen wollte.

»Ja, Flöhe«, sagte der Doktor. »Es sind in der Tat Flöhe, vor allem jene, die üblicherweise an Nagetieren auftreten, an wilden Nagetieren - Präriehunden, Backenhörnchen und ähnlichen.«

 »Keine Eichhörnchen?«

»Nur Bodenhörnchen«, antwortete der Doktor.

»Also, mit anderen Worten, Sie meinen Schädlinge. Richtig, Doktor?«

»So ist es.«

»Die Art von Schädlingen, die die Leute aus sportlichem Zeitvertreib schießen?«

»Nun, manche tun das. Aber überwiegend sind es Farmer, die sie töten. Und nicht als Sport - sondern um ihre Ernte zu schützen«, sagte der Doktor selbstgerecht und suchte Unterstützung bei der Jury.

»Oh, ist es nicht so, Doktor, dass die Flöhe auf Ratten überspringen, wenn man genug Nager tötet?«

»Nun, das ist wahr ...«

»Das ist vor langer Zeit bereits geschehen, war es nicht so, Doktor? Der Schwarze Tod in Europa - das war die Beulenpest, nicht wahr? Übertragen durch Ratten mit diesen Flöhen, von denen Sie gesprochen haben?“ Und wieviele starben? 25 Millionen?«

»Ja. Das ist wahr. Aber heute haben wir bestimmte Antibiotika, die-«

»Sicher. Aber die Pest ist noch immer eine Bedrohung, nicht wahr? Ich meine, wenn sie ausbräche, könnte sie immer noch einen ganzen Haufen unschuldiger Menschen umbringen, richtig?«

»Ja, das ist wahr.«

»Doktor, nur ein paar Fragen noch und wir sind fertig. Bevor es diese speziellen Antibiotika gab, wie sind die Leute da mit einer Rattenplage umgegangen? Sie wissen schon, um sich vor der Pest zu schützen? Was haben sie getan, wenn sie einen Haufen Ratten im Haus hatten?«

»Sie haben es abgebrannt«, sagte der Doktor. »Feuer ist das einzige-«

»Einspruch! Irrelevant! brüllte der Staatsanwalt.

»Treten Sie vor«, brüllte der Richter.

Veil rührte sich nicht. »Herr Richter, will er behaupten dass Crack keine Seuche ist? Denn ist meine feste Überzeugung -und ich weiß, dass viele andere sie teilen- dass der Herr uns testet mit dieser neuen Plage. Sie tötet unsere Kinder, Euer Ehren. Und sie ...«

»Das reicht!« schrie der Richter Veil an. »Noch ein Wort, Sir, und Sie teilen sich heute Nacht eine Zelle mit Ihrem Mandanten.«

»Soll ich Leonard etwa mit Zeichensprache verteidigen?«, fragte Veil.

Ein paar Leute lachten.

Der Richter ließ mehrere Male seinen Hammer krachen und als er damit fertig war führten Sie Veil in Handschellen ab.

 

-7-

Als ich ihn abends besuchte, konnte ich mit beiden sprechen. Sie spielten Schach; jemand hatte ihnen ein Brett und Figuren gegeben. »Du bist verrückt«, erklärte ich Veil.

»Ein verdammt schlauer Fuchs«, sagte Leonard. »Du kannst auf meinen Mann setzen. Ich denke, er schafft es. Schach.«

»Du hast eine Figur vom Brett geklaut«, sagte Veil.

»Hab ich nicht.«

»Doch, hast du.«

»Verdammt«, meinte Leonard, holte die Figur zwischen seinen Beinen hervor und stellte sie wieder zurück auf das Brett. »Für jemanden mit einem Auge siehst du `ne Menge. ...“

Ich schüttelte den Kopf. »Klar. Veil kriegt`s hin. Du, du kassierst lebenslänglich, sobald er fertig ist«, sagte ich.

»Alles wird gut«, meinte Veil und studierte das Schachbrett. Wir können immer noch zu Plan B übergehen.“

»Und was ist Plan B?«, fragte ich ihn

Leonard und er warfen sich einen Blick zu.

  

-8-

»Die Verteidigung der was?« schrie der Richter Veil am nächsten Morgen an.

»Die Verteidigung der Notwendigkeit, Euer Ehren. Wir haben sie hier vorliegen, im texanischen Gesetz. Um genau zu sein, der Fall Texas gegen Whitehouse  bringt es exakt auf den Punkt. Ein Mann war angeklagt worden, von seinem Nachbarn durch ein von ihm konstruiertes Leistungssystem Wasser gestohlen zu haben. Und er hatte es auch getan, so weit, so gut. Doch das war während einer Dürreperiode und hätte er es nicht getan, wäre sein Vieh verdurstet. Also musste er für das Wasser, das er gestohlen hatte, bezahlen, was fair war, aber er musste nicht ins Gefängnis.«

»Und Sie nehmen den Standpunkt ein, dass Ihr Mandant den Crack- Ich meine, das bewohnte Gebäude gegenüber seines Hauses, niederbrennen musste, um zu verhindern, dass die Krankheit sich ausbreitete?«

»Exakt, Euer Ehren. Wie bei der Beulenpest.«

»Nun, Sie werden diesen Unsinn in meinem Gerichtssaal nicht länger vorbringen. Reichen Sie ruhig Berufung ein. Bis das Gericht sie auch nur zu sehen bekommt, wird Ihr Mandant schon für die nächsten sieben Jahre hinter Schloss und Riegeln sein. Das sollte ihn abhalten.«

 

-9-

Veil stand vor der Jury, das Gesicht grimmig und entschlossen. Er ging ein paar Minuten lang vor ihnen auf und ab, als wollte er ein Gefühl für den Boden bekommen. Dann wirbelte er herum und sah ihnen in die Augen, einem nach dem anderen.

»Glauben Sie, dass die Polizei Sie vor der Pest beschützen kann? Vor der Invasion? Nein, ich spreche nicht von Außerirdischen, oder von UFOs, oder AIDS, ich spreche von Crack. Es ist hier, Leute. Genau hier. Glauben Sie, das gibt`s in Ihrer Stadt nicht?  Glauben Sie, solche Typen wachsen nur in Dallas und Houston heran? Sehen Sie sich um. Sogar in dieser kleinen Stadt schließen Sie nachts alle Ihre Häuser ab, nicht wahr? Und gab es nicht sogar Schießereien an der High School? Sind die Kirchen so voll, wie sie es früher einmal waren? Nein, das sind sie nicht. Denn die Dinge verändern sich, Leute. Die Pest naht. Ganz so, wie es die Bibel sagt. Nur dass es nicht Heuschrecken sind, sondern Crack und Kokain. Es ist eine Seuche, das ist es. Und sie wird von Ratten übertragen, so wie immer. Und es gibt, wie wir gelernt, nur ein Mittel, die Flut aufzuhalten. Feuer!«

»Ich bitte Sie nicht, zu entscheiden, dass mein Mandant das Feuer nicht gelegt hat. ... Ich bitte Sie, diesen guten Bürger, diesen Mann, der sich um seine Gemeinde sorgt, freizulassen. Damit er unter Ihnen leben kann. Dort, wo er hingehört.  Er stand zu Ihnen, nun ist es für Sie an der Zeit, zu ihm zu stehen.«

Veil setzte sich, erschöpft, als wäre er über zehn Runden mit einem harten Gegner gegangen.

Doch so, wie die Prozesse ablaufen, ist es immer der Staatsanwalt, der zum letzten Schlag ausholen kann.

Und dieser kleine, dickliche Bastard von Staatsanwalt feuerte seinen besten Schuss ab, betonte wieder und wieder, dass Unrecht und Unrecht nicht Recht ergeben. Doch er leistete sich ein paar Ausrutscher. Machte abfällige Bemerkungen in Leonards Richtung.  Dass Leonard schwarz war, schwul oder einfach nur ... Leonard, vermutete ich, und in gewisser Weise war das natürlich verständlich. Doch es gab dabei, genau wie Veil vorhergesagt hatte, jedes Mal mindestens ein Mitglied der Jury, dem das nicht gefiel. Sicher, es ist einfach, die Klaviatur der Vorurteile der Leute zu spielen - und ich weiß,  wir haben hier unten wahrlich keinen Mangel daran- aber wenn es nicht mehr gute als schlechte Menschen gäbe,  dann würde der Klan den Staat schon seit langer Zeit regieren.

Der Richter belehrte die Jury über die Gesetze und bat sie, sich zurückzuziehen und wieder zu erscheinen, wenn sie fertig wären. Alle standen auf, um zu Mittag zu essen,  doch Veil bewegte sich nicht. Er winkte mich herüber.

»Es wird sehr schnell vorbei sein, Hap«, sagte er »Auf die eine oder andere Weise.«

»Was, wenn es die andere ist?«

»Plan B«, meinte er, das Gesicht ausdruckslos wie ein Stück Schiefer.

 

-10-

Die Jury blieb etwa eine Stunde draußen. Der Vorsitzende stand auf und sagte ungefähr zwei Dutzend Mal »nicht schuldig« bezüglich jeden Verbrechens, dessen man Leonard angeklagt hatte.

Ich umarmte Leonard, als Veil mir auf die Schulter tippte. »Leonard“, sagte er »du musst da rüber gehen und dich bei den Jurymitgliedern bedanken. Bei jedem einzelnen. Aufrichtig, verstehst du?«

»Wozu?«, fragte Leonard.

»Weil es wieder passieren wird«, meinte Veil. »Und beim nächsten Mal wird vielleicht eine der Ratten brennen.«

Da ich Leonard kannte, konnte ich dem nicht widersprechen. Er ging zur Jury hinüber und ich drehte mich um, um Veil etwas zu sagen. Doch er war verschwunden.


Deutsche Übersetzung Andreas Huettl

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