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Das Inzest Schlupfloch

von Andrew Vachss

ursprünglich veröffentlicht in der New York Times, 20. November 2005


Was wäre, wenn ich Ihnen sagen würde, dass ein Vater, der seine acht Jahre alte Tochter regelmäßig vergewaltigt, im Falle einer Überführung wegen dieses Verbrechens durchaus erwarten kann, einer Gefängnisstrafe zu entgehen? Sie wären empört, nicht wahr? In New York ist genau das eine Tatsache, dank des "Inzest-Schlupflochs". Und niemand in der Legislative versucht auch nur, dieses verwerfliche Gesetz zu ändern.

Die meisten Bürger sind sich darin einig, dass Kinderschändung eines der widerlichsten Verbrechen ist, das man sich vorstellen kann. Dennoch gewährt das Gesetz des Staates New York – ganz wie das Gesetz der meisten anderen Bundesstaaten – die Möglichkeit einer privilegierten Behandlung für eine spezielle Art von Straftätern: jene Täter, die mit ihrem Opfer verwandt sind. Mit anderen Worten: Das Strafgesetzbuch gewährt Kindesvergewaltigern, die ihre eigenen Opfer heranziehen, eine Ermäßigung.

Wer denkt, dies sei eine Übertreibung, braucht nur die Strafandrohung des Staates New York für diejenigen, die ein Kind belästigen, mit dem sie nicht verwandt sind, mit der Strafe für diejenigen zu vergleichen, die Kinder belästigen, mit denen sie verwandt sind.

In New York ist Sex mit einem Kind unter 11 Jahren eine Straftat der Kategorie B, die mit bis zu 25 Jahren Haft bestraft wird. Der Straftatbestand ist im Kapitel über sexuelle Vergehen entsprechend indiziert. Wenn das sexuell missbrauchte Kind jedoch eng mit dem Täter verwandt ist, sieht das Gesetz eine entscheidend nachsichtigere Behandlung des Falles vor. Der Staatsanwalt kann wählen, diese Taten als Inzest anzuklagen. Dieser wird nicht als Sexualstraftat aufgeführt, sondern als "Delikt, das das eheliche Verhältnis beeinträchtigt" und das im Gesetzesbuch neben dem Ehebruch aufgeführt wird. Er stellt eine Straftat der Kategorie E dar, für die selbst ein verurteilter Straftäter Bewährung erlangen kann.

Bewährung ist erhältlich, weil das Gesetz Inzest mit einem Kind als „gewaltlose“ Straftat betrachtet. Aber die Tatsache, dass ein Elternteil selten körperliche Gewalt benötigt, um ein Kind zu vergewaltigen, macht diese Straftat nicht gewaltfrei. Inzest ist üblicherweise eine Vergewaltigung durch Erpressung – begangen von Eltern, die ihre Position missbrauchen, um die Fügsamkeit von Opfern zu erzwingen, bei denen jeder Aspekt ihres Lebens unter der Kontrolle des Täters steht. Denjenigen, die solche Straftaten begehen, von Gesetzes wegen eine "Du-kommst-aus-dem-Gefängnis-frei"-Karte auszuhändigen, ist unentschuldbar.

In New York sind Staatsanwälte gewählte Beamte, folglich ist es für sie ein wichtiges politisches Werkzeug, hohe Verurteilungsquoten beizubehalten. Ihnen aber die Option einzuräumen, eine Kindesmissbrauchs-Anklage auf Inzest herunterzuhandeln, fordert zur Ausnutzung auf und macht das gerühmte Prinzip der Gerechtigkeit für alle lächerlich, indem es Kinder zu bloßem Besitz  wg. Dopplung: entwertet. Selbst wenn man daran glauben möchte, dass Staatsanwälte solch ein Schlupfloch tatsächlich niemals nutzen würden: Wie kann dies rechtfertigen, dass man es in den Gesetzbüchern belässt? Warum sollten Staatsanwälte und Richter die Ermessensfreiheit haben, denjenigen, die ihre eigenen Kinder sexuell missbrauchen, eine bevorzugte Behandlung zukommen zu lassen?

Das aktuelle Gesetz hat eine merkwürdige Historie. Es ist nahezu unverändert geblieben, seit es ursprünglich im kolonialen New York erlassen wurde. So wie ähnliche Gesetze in anderen Bundesstaaten wurde es praktisch unberührt von einer britischen Gesetzvorschrift aus dem 16. Jahrhundert übernommen.

Als sie anfangs geschrieben wurden, waren Gesetze über Inzest auf biblischen Verboten gegründet und dazu vorgesehen, die Empfängnis genetisch beeinträchtigter Kinder zu verhindern. Das Paradigma hierfür waren Cousins ersten Grades, die heirateten, und nicht Eltern, die ihre Kinder vergewaltigen. Das New Yorker Inzest-Statut gab es schon Jahrzehnte, bevor Kindesmissbrauch öffentlich bekannt wurde. In Erkenntnis der unangenehmen, aber unbestreitbaren Wahrheit, dass die überwältigende Mehrheit von sexuellen Delikten gegen Kinder nicht durch Fremde begangen werden, hat es sich nie weiterentwickelt.

Wenn über New Yorks "Inzest-Schlupfloch" jemals ein öffentliches Referendum abgehalten würde, wäre es dem Untergang geweiht. In der Tat haben die meisten Menschen das starke Empfinden, dass die Vergewaltigung des eigenen Kindes eine höhere Strafe zur Folge haben sollte und keine ermäßigte. Doch vorliegend handelt es sich um ein getarntes Gesetz, das unter dem Radar der öffentlichen Wahrnehmung fliegt. Es wird nur in Hinterzimmer-Abmachungen zwischen Verteidigern und Staatsanwälten heraufbeschworen, in der Presse wird darüber nicht berichtet.

Jeder Politiker, der solch ein Gesetz öffentlich unterstützte, würde damit Karriere-Selbstmord begehen. Aber weil die Hauptopfer nicht zu politischen Kampagnen beitragen, Lobbyisten einstellen oder wählen können, ist keine natürliche Wählerschaft aufgetreten, um dieses Gesetz zu ändern. Denn es ist fast unmöglich, ein Gesetz zu verabschieden oder zu verändern, ohne dass gegenseitig Vorteile ausgetauscht werden.

Wenn wir endlich der Rhetorik über Kinderschutz etwas Realität beifügen wollen, ist es jetzt Zeit dafür. Die aktuelle Gesetzgebung in New York besagt, dass jemand "des Inzests schuldig ist, wenn er oder sie eine Person, von der er oder sie weiß, dass sie mit ihm oder ihr verwandt ist, heiratet oder sich mit ihm oder ihr auf Geschlechtsverkehr, Oralverkehr oder Analverkehr einlässt". Indem man einfach "Person" durch "Erwachsener" ersetzt, wäre es möglich, die ursprüngliche Absicht des New Yorker Inzest-Verbots beizubehalten – als "Verstoß gegen die eheliche Beziehung" –, während man das Schlupfloch schließt, das derzeit eine besondere Sorte von Straftätern schützt.  

Wir werden bald einen neuen Gouverneur wählen. Wir sollten verlangen, dass jeder Kandidat sich dazu verpflichtet, die Änderung dieses Gesetzes zur höchsten Priorität seiner Amtsperiode zu machen. Die Leben unserer Kinder hängen davon ab.


Anmerkung The Zero Februar 2006: Das Thema Inzest-Schlupfloch ist mittlerweile in den Fokus der Öffetlichkeit gerückt. In einer ganzen Reihe von Bundesstaaten -erwähnt seien vor allem Kalifornien und New York- finden derzeit Gesetzgebungsinitiativen statt, um die dort geltenden Inzestgesetze aufzuheben oder zu ändern.

 


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