(Echte und falsche) Erinnerungen wie auch daraus resultierende (echte und
falsche) Anschuldigungen sind seit Jahr und Tag ein so heiß umkämpftes
Thema, dass bei vielen der Protagonisten auf beiden Seiten der
Realitätsbezug verloren gegangen scheint. Recht haben und Recht
behalten haben verdrängt, worum es tatsächlich überhaupt geht: den
angemessenen Umgang mit menschlichen Tragödien. Der
renommierte Psychologe Dr. Joel A. Dvoskin hat nach jahrelanger Beteiligung an
der in eine verbale Schlägerei ausgearteten Diskussion um falsche
Anschuldigungen seinem Unmut in treffender und klar artikulierter
Weise Luft gemacht. Wie wir meinen, ist seinen Worten nichts hinzuzufügen.
ERINNERUNGEN
von Dr. Joel
A. Dvoskin
Dr. Joel Dvoskin ist einer von
Amerikas führenden forensischen Psychologen. Er ist Präsident der
Abteilung Psychologists in Public Service of American Psychological
Association und der designierte Präsident von
APA's American Psychology - Law Society division
Dr. Dvoskin wurden Preise der
National Coalition for the Mentally Ill des Criminal Justice System und der
American Academy of Psychiatry and the Law verliehen. Dr. Dvoskin ist
assistant professor an der University of Arizona, der New York
University Medical School und dem Louisiana State University Medical
Center. Seit 1995 ist er als
niedergelassener forensischer Psychologe und als Sachverständiger in zivil- und
strafrechtlichen Angelegenheiten tätig; ferner in beratender Funktion von
psychiatrischen Einrichtungen des Gesundheitsdienstes und der Justiz sowie
Verbrechenspräventionsprogrammen.
Das endlose,
unnachgiebige Hin und Her der gegenseitigen Angriffe ist so ermüdend
wie kontraproduktiv geworden. Als jemand, der ein starkes und
langfristiges Interesse am Kinderschutz hat, möchte ich gerne einige
Dinge geltend machen, von deren Wahrheit ich überzeugt bin und dann
beide Seiten dieser "Debatte" bitten, mir mitzuteilen, was ich
ausgelassen habe - falls ich etwas ausgelassen habe.
Meine Thesen:
Anschuldigungen:
1) Es gibt
Personen die erklärten, dass sie Erinnerungen an einen Missbrauch zu
Kindheitszeiten wiedererlangt haben, die ihnen zuvor nicht zugänglich waren.
2) Einige
dieser Anschuldigungen wurden bestätigt (z. B. durch Zeugenaussagen, durch die
Entdeckung von Fotos oder Videos etc.) . Andere wurden widerlegt (z. B. durch
bestätigte Alibis, die Aufdeckung von Erpressungsvorhaben etc.) Einige wurden
weder bestätigt noch widerlegt.
3) Manche des
sexuellen Missbrauchs Beschuldigte behaupteten, unschuldig zu sein.
4) Einige
jener, die ihre Unschuld beteuerten, wurden der Lüge überführt. Andere sagten
nachweislich die Wahrheit; bei wiederum anderen wurden die Einlassungen weder
bestätigt noch widerlegt.
5) Keiner der
Beteiligten auf beiden Seiten dieser Diskussion hat auch nur die geringste
Vorstellung davon, wie viele Fälle der einen oder anderen der oben genannten
Gruppen zuzuordnen sind.
6) Doch nichts
davon hat die Teilnehmer davon abgehalten, die verschiedensten "Statistiken",
"Beweis" oder gar "Allgemeinwissen" für die Gültigkeit ihrer eigenen Position
vorzubringen.
Erinnerungen:
Von jenen, die sagten, dass sie sich nicht erinnern und anschließend sagten,
dass sie sich doch erinnern und deren Anschuldigungen sich bestätigten,
weiß niemand um den exakten Mechanismus, wie sich dieses Phänomen ereignen
konnte.
Wissenschaft:
1) Es ist
nicht angemessen, von Anekdoten auf die weite Verbreitung eines Phänomens zu
schließen, das weder systematisch noch empirisch untersucht wurde.
2) Der Beweis,
dass etwas passieren kann ist weder der Beweis dafür, dass es
passiert, noch wie häufig es passiert. Dies gilt für wiederentdeckte, wie
auch für implantierte Erinnerungen.
Verhalten von Therapeuten:
1) Manche
Therapeuten (keiner weiß, wie viele) legen ein unangemessen Verhalten im
Umgang mit der Thematik des sexuellen Kindesmissbrauch an den Tag..
2) Die
Tatsache, dass sich ein Therapeut unangemessen verhielt, sagt nichts darüber
aus, ob der behauptete Missbrauch stattfand oder nicht. Wir wissen nicht,
dass er sich ereignete und wir wissen nicht, dass er sich nicht
ereignete.
Sofern ich angesichts all der Phrasendrescherei nicht
etwas übersehen habe, scheint mir das Vorstehende eine nahezu erschöpfende Liste
dessen zu sein, was wir über diesen Bereich wissen. Alles andere ist nach meiner
Beurteilung verletzend für wahre Opfer, zu Unrecht beschuldigte Täter,
Psychologen und Kinder. Mit anzusehen, wie Profis sich über das Internet und in
gedruckten Medien gegenseitig anspucken, trivialisiert eine tatsächliche
menschliche Tragödie.
Extremisten
haben sich breit gemacht und der Öffentlichkeit wird entweder eine "Hexenjagd"
oder das Szenario eines "grundsätzlich zu vermutenden Missbrauchs" präsentiert.
Nichts davon trägt etwas zur Glaubwürdigkeit unseres Berufsstandes bei.
Ich habe nun
eine Reihe von Jahren die leidenschaftlichen Argumentationen bezüglich dieses
Themas gelesen und angehört. Die Richtung, die diese "Diskussion" genommen hat,
widert mich an. Ich kann verstehen, dass jemand, der missbraucht wurde und auch
jemand, der des Kindesmissbrauchs beschuldigt ist, in extremer und emotionaler
Weise reagiert, ganz gleich, ob der Beschuldigte unschuldig oder schuldig ist.
Aber vergessen wir nicht, dass beide Möglichkeiten tragisch sind.
Ich vermute,
dass ich, wenn ich (was Gott behüte) jemals zu Unrecht eines solch scheußlichen
Verbrechens beschuldigt würde, in Versuchung wäre einer Organisation wie der
FMSF beizutreten. Ich vermute auch, dass ich als zu recht eines solchen
Verbrechens Beschuldigter den Antrieb spüren würde, mich einer solchen
Organisation anzuschließen. Mit anderen Worten: dass jemand Mitglied der FMSF
ist, sagt uns nichts darüber aus, ob er schuldig ist oder nicht.
Der einzig
mögliche Weg der Aufklärung von Anschuldigungen wegen sexuellen Missbrauchs ist
der altmodische: mittels gewissenhafter Untersuchungen. Jeder, der unterstellt,
dass die sogenannte verzögerte Wiedererlangung von Erinnerungen nicht möglich
ist, sagt nicht die Wahrheit; und jeder, der unterstellt dass niemand jemals zu
Unrecht beschuldigt wird, sagt ebenso wenig die Wahrheit. Es wäre schön (oder
vielleicht auch nicht) wenn die Welt so einfach wäre, dass eines dieser Extreme
zutreffend wäre. Doch das ist nicht die Welt in der wir leben.
"Falsche
Anschuldigungen" sind kein "Thema", zu dem man einen "Standpunkt" einnimmt wie
zur Frage der Abtreibung oder der Todesstrafe. Zumindest soweit es unseren
Berufsstand betrifft, sollte das nicht der Fall sein. Solange wir nicht jede
Anschuldigung auf der Grundlage einer Fall-für-Fall-Herangehensweise
untersuchen, solange und bis wir nicht aufrichtige und unvoreingenommene
Untersuchungen anstreben, solange nicht beide Seiten mit ihrer unsinnigen
"Interpretation" aller Ergebnisse, die ihre "Position" nicht unterstützen
aufhören, solange werden wir angesichts eines Problems, dem wir alle eine
gewaltige Bedeutung beimessen, vollkommen machtlos sein.
Daher sage
ich euch allen, hört um Himmels Willen damit auf, aufeinander einzuhacken. Habt
den Mut, die Wahrheiten der anderen Seite anzuhören und ehrlich und offen nach
Antworten zu suchen, selbst wenn es nicht die sind, die ihr euch wünscht oder
die ihr erwartet. Und vor allem, habt den Mut die Worte auszusprechen, die
dieser Diskussion in tragischster Weise fehlen, von Psychologen und Psychiatern
auf beiden Seiten. Diese Worte sind: " Ich weiß es nicht".
Ich bitte um
Nachsicht für die Länge und den "predigenden " Tonfall dieses Beitrags, aber ich
habe dieses traurige Schauspiel lange Zeit beobachtet und diese Dinge sorgten
mich sehr.
Hochachtungsvoll!
Joel Dvoskin
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