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The Official Website of Andrew Vachss

 

Auszüge aus

VERRAT

von Andrew Vachss


 



 

"Doc, erinnern Sie sich an diesen Burschen, von dem Sie mir erzählt haben, diesen Bruce Perry? Der über Hirntrauma arbeitet?"

"Ja", sagte er langsam, wartete auf die Pointe. "Sie haben ein gutes Gedächtnis, mein Freund"

"Ich habe einen Fall. Einen ganz legalen Fall", versicherte ich ihm schnell. "Und ich glaube, er ist der Mann, mit dem ich sprechen sollte. Können Sie das arrangieren?"

"Ich höre", sagte Doc. Sein Catcher-Oberkörper bewegte sich hinter dem vollgepackten Schreibtisch, die Augen richteten sich auf mich, wie schon Jahre zuvor, als wir anfingen, miteinander zu reden. Als ich noch hinter den Mauern war. Mich fragte, ob es überhaupt etwas anderes gab.

"Das habe ich schon reichlich gemacht - zugehört", sage ich. "Ein Mädchen behauptet, etwas sei passiert. Vor langer Zeit. Es ist passiert. Sie wußte es nicht. Oder erinnerte sich zumindest nicht mehr daran. Bis heute."

"Freisetzen von Erinnerung?"

"Das behauptet sie."

"Und Sie sagen...?"

"Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Das ist mein Job - daß ich was dazu sage."

Er lehnte sich im Sessel zurück, die Augen hinter der unvermeindlichen Nickelbrille nach wie vor auf mich gerichtet. "Wir kennen uns schon ziemlich lange, Burke. Sie haben mehr über Kindesmißbrauch gelesen als jeder Akademiker, den ich kenne. Wozu brauchen Sie Perry?"

"Er ist Wissenschaftler, stimmt`s? Naturwissenschaftler, kein Blah-blah-Mann."

"Wie ich?" fragte Doc. Forderte mich heraus, brachte die Sache, wie immer, einfach auf den Punkt.

"Was jemand macht...ist nur so gut wie der, der es macht, richtig?"

"Sicher. Wie beim Haus bauen. Oder Zähne richten. Oder Klavier spielen."

"Aber irgendwo gibt es eine Wahrheit, Doc. Eine echte Wahrheit. Wie beim Goldtest - man läßt die Chemikalien auf das Metall tropfen und sieht die Wahrheit."

"Sie meinen Perrys Wissen sei so etwas?"

"Sie nicht?"

"Ich bin mir noch nicht sicher, mein Freund. Könnte sein. Ich sag Ihnen was - ich werde ihn anrufen und ihm die Wahrheit sagen. Über Sie, verstanden. Wenn er interessiert ist, dann ist das seine Sache."

"Danke Doc. Ich schulde Ihnen was."

"Ja, stimmt", sagte er, entließ mich mit einer Handbewegung.

 


"Das Gehirn speichert traumatische Erlebnisse anders als andere", fuhr Perry fort. "Denn wenn sich das Gehirn in einem Alarmzustand befindet, ist es äußerst aufmerksam. Deshalb werden Worte erheblich erheblich weniger wirkungsvoll gespeichert als nonverbale Signale, die für das Überleben wichtig sind -Gesichtausdrücke, Körperbewegungen, Geräusche und Gerüche. Bis zu einem gewissen Grad erinnern wir uns an ein Trauma, aber Verdrängung ist auch ein Faktor in dieser Gleichung. Die Erinnerung wird fragmentiert - die sich daraus ergebende Schilderung ist nicht immer linear oder präzise. Daher verlassen wir uns nicht allein auf sie. Wir versuchen, zu ermitteln, was ein Individuum empfindet, wenn es bestimmte traumatische Ereignisse erinnert ... und ob es mit dem Trauma zusammenhängende Stichworte zuordnen kann. Deshalb arbeiten wir auch mit Selbsteinschätzungsformularen."

"Sie meinen, was Patienten über sich selbst sagen?"

"Ja, und außerdem die üblichen psychologischen Standardtests.Wir wollen verschiedene Persönlichkeitsaspekte des Patienten untersuchen - Problemlösungsstrategien, den IQ, die Themen seines Innenlebens ... Hoffnungen, Ängste, Wünsche. In diesem Fall jedoch haben wir es mit durch Hypnose angestoßene Erinnerungen zu tun, und das wirft einige weitere Fragen auf."

"Zum Beispiel?"

"Wir benutzen den Standard-Empfänglichkeitsindex - wir wollen herausfinden, ob der Patient leicht hypnotisiert werden kann."

"Das erkennen Sie an der Art und Weise, wie ein Patient bei einem Test Fragen beantwortet?"

"Nein", sagte er. "Warten Sie, ich zeige es Ihnen. Folgen Sie meinem Finger mit den Augen." Er bewegte ihn nach links, rechts, rauf und runter, dann führte er den Finger spiralförmig ganz nach oben, weit aus meinem Blickfeld heraus. "Okay, und jetzt verdrehen sie ihre Augen so weit wie möglich, ohne meinem Finger zu folgen."

Ich tat es. "Und?" fragte ich.

"Allgemein gilt, je mehr Weißes sich bei extremem Augenverdrehen zeigt, desto empfänglicher ist der Patient für Hypnose."

"Wie habe ich abgeschnitten?"

"Gut", sagte er. Für einen Bruchteil einer Sekunde veränderte sich sein Gesichtsausdruck. "Außerdem benötigen wir eine Anamnese des Schlafs", sagte er schnell. " Wenn der Patient chronische Einschlafschwierigkeiten hat oder wenn er plötzlich aufwacht - besonders etwa 3 Stunden nach dem Einschlafen -, dann ist das ein Hinweis auf eine Fehlregulation des noradrenergen Systems".

Ich wollte ihn fragen, ob er einen Dolmetscher greifbar hatte, begnügte mich aber mit "Nor-was?"

"Norephedrin ist ein chemischer Stoff - genau so wie die anderen, über die ich im Zusammenhang mit den Belohnungsystemen gesprochen habe. Nur, daß die noradrenergen Systeme die Hauptvermittlersubstanz für die Angstreaktion sind. Und wenn jemand traumatischem Streß ausgesetzt ist, besonders in der Kindheit, während sich die Systeme gerade erst herausbilden, werden diese Systeme überreaktiv."

"Auch wenn das Kind schläft?"

"Wenn die ganze Umwelt enorm belastend ist, sicher. Der Schlüssel dazu ist das Herz - es ist nur ein Synapse vom Gehirn entfernt. Trauma erhöht den Herzschlag. Wenn die Umwelt stark traumatisierend ist, entsteht eine Überreaktion selbst auf die einfachsten Belastungen. ... und das setzt eine größere Veränderung in Gang. Man sieht das bei allen traumatisierten Individuen: Angst, Impulsivität, Depression, Aggression ... ja sogar dissoziative Störungen."

"Also hängen Sie sie an ein EKG und warten auf ...?"

"Fast. Das von uns benutzte Instrument sieht aus wie eine Armbanduhr; Kinder gewöhnen sich innerhalb weniger Sekunden daran. Wenn wir - oder sie - ein traumatisches Thema anschneiden, nimmt die Herzfrequenz sofort zu. Und wenn die Angst groß genug wird, muß das Gehirn >handeln< ", sagte er, machte wieder Anführungszeichen, "das kann ein primäres, äußeres Verhalten - wie Errregung oder Aggression - oder eine primäre, innere Reaktion sein: Frieren, Taubwerden der Gliedmaßen, Dissoziation. Wenn die Reaktion auf Bedrohung äußerlich ist, bleibt der Puls auf hohem Niveau. Wenn aber die Reaktion in Abspaltung besteht, pendelt sich der Puls zunächst ein ... und sinkt schließlich wieder. Wir können dies tatsächlich in Verbindung mit bestimmten Stichworten beobachten. Mit Hilfe einer gleichzeitigen Videoaufzeichnung können wir sehr präzise beurteilen, welche Themen und Stichworte und Anstöße mit einer tief verwurzelten Erinnerung verbunden sind ... der Erinnerung an den im ursprünglichen Trauma vorhandenen Angstzustand."

Er holte tief Luft. "Konnten Sie meinen Ausführungen soweit folgen?" fragte er entschuldigend.

Perrys Art zu sprechen war genau das Gegenteil dessen, was Anwälte machen - er wollte sich nicht dahinter verstecken; er wollte, daß man ihn verstand. Ein Genie ohne jede Arroganz, der das Leben mit dieser "Oooh, verflixt"- Bauernjungen-attitüde erklären konnte - beim Geldsammeln mußte er ein absoluter Knüller sein.

"Wenn normale Menschen Angst bekommen, steigt der Herzsschlag", antwortete ich. "Irgendwann beruhigt sie das. Wenn sie mißbraucht worden sind, steigt der Puls weiter, bis sie im Kopf woanders hingehen. An einen sicheren Ort. Dann schlägt das Herz wieder ruhiger. So sind Ursache und Wirkung vertauscht", sagte ich leise. Und dachte daran, wie ich das gelernt hatte: durch das Starren auf einen roten Punkt auf meinem Spiegel, das Eintauchen in diesen Punkt, bis ich keine Angst mehr hatte. Ich hatte nicht alles verstanden, was er sagte, aber wenn man es übersetzte, würde es jedes mißbrauchte Kind auf der Welt wiedererkennen. Er nickte, sagte nichts .

Ich blieb auch still, lauschte auf meinen eigenen Herzschlag.

 

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