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The Official Website of Andrew Vachss

 

Wie kann es Glück ohne Selbstachtung geben?
Ein Interview mit Andrew Vachss

Ursprünglich veröffentlicht in CHANCES Ausgabe 2/2003


Chances: Was hat Sie Jura studieren lassen? Hat Ihnen Ihr Studium gefallen?

Vachss: Ich hatte kein intellektuelles Bedürfnis, Jura zu studieren. Was ich wollte, war eine Jagdlizenz. Nachdem ich als Bundesermittler für sexuell übertragene Krankheiten gearbeitet hatte und als Sozialarbeiter für das berüchtigte New York City Department of Welfare tätig war, nach einer Mission im Kriegsgebiet während des Biafra-Aufstandes (das Land heißt heute Nigeria), nach kurzen Aufträgen (in verschiedenen Teilen des Landes) als Bewährungshelfer für Jugendliche, nachdem ich ein "Sozialprogramm-" zentrum für Vertriebene, eine kommunale Anwaltsorganisation sowie ein "Resozialisierungs-" zentrum für soeben entlassene Häftlinge betrieben und schließlich ein Hochsicherheits-gefängnis für "aggressiv-gewalttätige" Jugendliche geleitet hatte, blieben bei mir zwei Schlußfolgerungen bestehen: (1) Jegliches Böse auf diesem Planeten hat seine Entstehungsgeschichte in der Misshandlung von Kindern; und (2) Wenn ich eine echte, andauernde Veränderung bewirken wollte, dann musste ich direkt zum frühestmöglichen Zeitpunkt eingreifen. Ich wollte kein Angestellter irgendeiner Behörde sein -- das hatte ich bereits ausprobiert, in vielen Bereichen -- denn ich wollte, dass das Ergebnis in meinen Fällen von meinen Fähigkeiten und meiner Hingabe abhing, nicht von irgendeiner bürokratischen "Politik". Ich wollte auch das Gesetz selbst ändern, und man muss das studieren, was man zu bekämpfen beabsichtigt. Folglich empfand ich mein Studium sowohl als langweilig, als auch als unerlässliche Notwendigkeit.

Chances: Hatten Sie, bevor Sie Jura studierten, eine andere Wahrnehmung von verfassungsmäßiger Legalität und Justiz als heute? Inwiefern haben Sie Erfahrungen hinzugewonnen oder wurden desillusionierter?

Vachss: Mein "Studium" bestand darin, hinreichend Material zu lernen, um die Examina zu bestehen. Meine Wahrnehmung von Gerechtigkeit und Gesetzmäßigkeit -- beides sind keine Synonyme -- wurden durch die Universität nicht beeinflusst, weil meine vor dem Studium gewonnene Lebenserfahrung mich, von Kindheit an, die Wahrheit gelehrt hatte. Und nichts von dem, was ich seither gelernt oder erlebt habe, hat meine Sicht der Dinge geändert.

Chances: Würden Sie unseren Lesern verraten, wie ein typischer Tag im Leben des Andrew Vachss aussieht (wenn es so etwas überhaupt gibt)?

Vachss: Ich habe keinen typischen Tagesablauf. Mein Leben ist Triage. Das Telefon klingelt, das Faxgerät schüttelt sich, mein Computerbildschirm blinkt, die Post wird gebracht, es läutet an der Bürotür... und alles kann sich in diesem Moment ändern. An einem Tag bin ich bei Gericht, verhandele einen Fall; an einem anderen führe ich eine Ermittlung oder eine Beratung durch, halte eine Rede, schreibe ein Buch oder einen Artikel. Oftmals ereignen sich diese Dinge am selben Tag. Es gibt kein bestimmtes Muster und gab nie eines. Ich kann Ihnen nicht mal sagen, wo ich nächste Woche sein werden, noch viel weniger, was ich dann tun werde.

Chances: Bereitet Ihnen Ihre Arbeit als Anwalt Vergnügen - und wenn ja, was davon besonders und was lässt sie manchmal an Ihrem Job zweifeln?

Vachss: Meine Arbeit ist Kampf. Die Freude, irgendeinen Fall gewonnen zu haben, schwindet rasch, weil ich weiß, dass fast sofort der nächste Kampf wartet und kein dauerhafter, endgültiger Sieg möglich ist. Der Feind ändert sein Gesicht, seinen Namen, seine Adresse ... aber niemals seine Motivation. Ich zweifle nicht an meiner Arbeit, weil meine Arbeit mein Ich ausmacht und ich nicht an mir selbst zweifle -- auch wenn ich mich regelmäßig hinterfrage. Ich bin überzeugt, dass dein Leben keinen Sinn hatte, wenn die Welt sich nicht geändert hat, nachdem du sie betreten hattest.

Chances: Sie vertreten ausschließlich missbrauchte Kinder. Wie kam es dazu?

Vachss: Ich vertrete ausschließlich Kinder, nicht notwendiger Weise missbrauchte Kinder. Ich vertrete auch Kinder, die wegen der Begehung von Verbrechen abgeklagt sind, Kinder die das Subjekt von Sorgerechtsauseinandersetzungen geschiedener Eltern sind, Kinder in Adoptionsverfahren, etc. Das ist nicht "passiert." Es war kein Unfall, oder ein zufälliger Umstand. Ich studierte Jura speziell zu diesem Zweck und das ist alles, was ich jemals vorhatte, seit ich meine Zulassung erhielt. Weil diese Arbeit so schlecht bezahlt wird, habe ich jahrelang weitere anwaltliche Tätigkeiten ausgeübt -- überwiegend Strafverteidigung. Doch seit der Veröffentlichung meines ersten Buches hat es mir diese Einnahmequelle erlaubt, meine juristische Tätigkeit auf Kinder zu beschränken, und das das habe ich in den letzten, etwa fünfzehn Jahren getan.

Chances: Bitte sagen sie uns, wie Sie Ihre Arbeit sehen: Wie viel von ihrer Zeit investieren Sie in die Vertretung missbrauchter Kinder und wie viel in das gesetzliche Verbot von Gewalttaten?

Vachss: Ich kann meine Zeit nicht so aufteilen, wie Sie es vorschlagen. Und, die Wahrheit ist, die erfolgreiche Vertretung eines missbrauchten Kindes ist die Verhinderung von (zukünftigen) Gewalttaten. Das ist der Grundstein zu allem, was ich versucht habe aufzubauen. Wenn Sie mit dem Verbott von Gewalttaten die Verbrechensbekämpfung meinen, dann ist das ebenfalls eine Konstante, die untrennbar mit allem anderen, was ich tue verknüpft ist, da die Verbrechen die ich bekämpfe, Verbrechen gegen Kinder sind.

Chances: Sie sind ebenfalls ein erfolgreicher Autor und versuchen durch ihre Romane die Gesellschaft für das Thema des Kindesmissbrauchs zu sensibilisieren. In welchem Maße, würden Sie sagen, sind sie darin erfolgreich?

Vachss: Es ist niemals die Frage ob ich erfolgreich bin. Ich bin einer von vielen. Ein Soldat, kein General. Es ist ein kosmischer Wandel in der Arbeit zum Schutz von Kindern eingetreten, seit ich erstmals begann -- Änderungen der Gesetzgebung, Änderungen der Politik, Änderungen in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit -- aber sie waren das Ergebnis einer kollektiven Anstrengung. Jeder Versuch, meinen persönlichen, individuellen Beitrag zu extrahieren, wäre ein Paradebeispiel für Narzissmus. Während ich jeden Brief zu schätzen weiß, der mir mitteilt, dass meine Arbeit das Leben von jemandem verändert hat, ist es stets mein Verständnis gewesen, dass meine Arbeit-- juristisch und literarisch-- im Kontext einer vereinten Anstrengung existiert. The Zero empfängt zum Beispiel jeden Tag mehrere Tausend Besucher, von überall auf der Welt, und ist ein unschätzbares Werkzeug um unsere Mission auszudehnen. Doch diese enorme Website könnte ohne die Arbeit der vielen engagierten Personen, die alle Freiwillige sind, nicht existieren. The Zero Germany ist eine weitere bemerkenswerte Anstrengung von ausschließlich Freiwilligen, von jenen, die wie wir glauben: Verhalten ist die Wahrheit. Sie sind es, die freiwillig Nachforschungen in Fällen unternehmen, Ermittlungen anstellen, mit unseren Klienten arbeiten, neue Gesetzgebung schreiben ... die Liste ist endlos und die Leistungen enorm. Ist das alles "meine" Arbeit? Nein. Es ist unsere Arbeit.

Chances: Für diejenigen unserer Leser, die mit Ihrer Arbeit als Autor nicht vertraut sind: Bitte erzählen Sie uns etwas über den Hintergrund Ihrer Romanfigur Burke.

Vachss: Burke ist der Prototyp des missbrauchten Kindes: misstrauisch, hyper-wachsam, abwechselnd verängstigt und gewalttätig wütend, und zutiefst mit seiner "Wahlfamilie." verbunden. [In Burkes Welt macht die DNA einen Mann nicht zum Bruder und eine Frau nicht zur Schwester -- du bist das, was du tust.] Er ist kein "Weißer Ritter" à la Chandler. Burke, (kein Vorname: seine Geburtsurkunde lautet "Baby Boy Burke," da er von seiner Mutter, einer Prostituierten, ausgesetzt wurde und sein Vater unbekannt ist), wurde aufgezogen in Brutalität: in Waisenhäusern, Pflegeheimen, und Jugendgefängnissen. Er ist ein Privatdetektiv ohne Lizenz, der "unter dem Radar" lebt, ein Berufsverbrecher, der zwei Gefängnisstrafen abgesessen hat. Er ist ein Söldner, der sein Gewerbe mit "Gewalt für Geld" beschreiben würde. Seine beiden ausgleichenden Charakterisika sind seine bedingungslose, totale Liebe für seine "Wahlfamilie" und sein unablässiger Hass auf jene, die Kindern weh tun ... so wie man ihm weh tat.

Chances: Wer ist verantwortlich, wenn Kinder missbraucht werden: jeder Einzelne als Teil der Gesellschaft, Politiker, oder ausschließlich die Straftäter?

Vachss: Jeder der oben genannten. Wir sind die einzige Spezies, die Raubtiere ihrer eigenen Art toleriert. Politiker sind keine "Diener der Öffentlichkeit " bis wir sie dazu machen. Bis und wenn nicht der Schutz von Kindern zu unserer obersten Priorität wird, werden wir alle weiterhin die Konsequenzen erleiden müssen. Niemand ist "böse geboren". Es gibt keinen biogenetischen Code für Serienkiller, Vergewaltiger oder rücksichtslose Pädophile. Wir erschaffen unsere eigenen Monster und ziehen unsere eigene Bestien heran. Wenn wir es mit der Verbrechensprävention ernst meinen, müssen wir als erstes in den Schutz von Kindern investieren.

Chances: Es gibt verschiedene Arten des Missbrauchs von Kindern und er ist, wie Sie sagen, sehr viel weiter verbreitet, als angenommen. Warum, glauben Sie, existiert diese Paradoxon, dass Kindesmissbrauch in unserer Gesellschaft wie kaum etwas anderes geächtet ist, in der Realität jedoch so wenig getan wird, um Kinder zu schützen?

Vachss: Heuchlerischer politischer Rhetorik zum Trotz werden Kinder noch immer als der Besitz ihrer "Eigentümer" betrachtet (so wie in früheren Jahren die Frauen). Das beispielhafte Paradigma ist der sexuelle Kindesmissbrauch. Wenn ein Fremder ein Kind vergewaltigt, besteht Einigkeit darüber, dass er ein bösartiges Tier ist, das von der Gesellschaft isoliert werden muss. Wenn ein Elternteil genau das gleiche tut, nennt man es "familiäre Disfunktion" und der Straftäter wird als "krank" und "behandlungsbedürftig." betrachtet. Wir haben eine Gesellschaft, in der ein Straftäter für Ladendiebstahl eher ins Gefängnis geht als für Inzest. Und eine Welt, in der eine Hosentasche voller Drogen ernstere strafrechtliche Konsequenzen mit sich bringt als ein ganzer Lastwagen voller Kinderpornographie. Überall auf der Welt sind Kinder Eigentum. Sie werden gekauft, verkauft, gemietet, gezwungen in Minen zu arbeiten, als Soldaten zu dienen. Sogar ihre Organe werden "geerntet." Das Thema geht weit über Moral und Ethik hinaus hin zur Frage des langfristigen Überlebens. Wenn wir Kinder nicht beschützen, können wir unsere menschliche Rasse nicht schützen.

Chances: Abgesehen von brutaler Gewalt und sexuellem Missbrauch werden Kinder oftmals emotional misshandelt. Es ist bekannt, dass der Großteil des Kindesmissbrauchs innerhalb der Familie stattfindet. Gibt es irgendeinen Rat, den Sie einem jungen Menschen erteilen können, der solchen Missbrauch ertragen musste und ihn in seinem Innersten mit sich herumträgt?

Vachss: Ich habe einen unaufhörlich zitierten Essay über genau dieses Thema geschrieben, der sich direkt an die Opfer emotionalen Missbrauchs wendet. Er ist zu lange, um ihn hier wiederzugeben, aber er hier erhältlich: Du trägst das Heilmittel in deinem Herzen.

Chances: Wie sollten wir uns verhalten, wenn unser bester Freund uns so etwas gesteht, uns aber das Versprechen abverlangt, es niemandem zu sagen?

Vachss: Wem gegenüber besteht Ihre größere Verpflichtung: gegenüber dem (erwachsenen) Täter oder gegenüber dem Kind, das zum Opfer wurde? Wenn Sie möchten, können Sie die Enthüllung Ihres Freundes als einen "Hilfeschrei" ansehen und ihm die beste Therapie und den besten Rechtsbeistand besorgen, den Sie ihm bieten können... oder ihm helfen, dies selbst ausfindig zu machen. Aber Sie müssen handeln, um das Kind zu schützen. Was auch immer Ihr Freund tut, muss aufhören, und wenn Sie es aufgrund irgendeiner absurden Vorstellung von "Freundschaft" erlauben, den Missbrauch eines Kindes zu ermöglichen, dann sind Sie ebenso schuldig.

Chances: Abschließend eine persönliche Frage: Ist es überhaupt möglich glücklich zu sein, wenn man in seinem Leben jeden Tag so viel unerträglichem Leid begegnet?

Vachss: Ich weiß nicht ob es möglich ist "glücklich" zu sein, wenn man dem Bösen in Gestalt des Kindesmissbrauchs entgegentritt. Doch es nicht zu tun, garantiert ein lebenslanges Unglücklichsein. Denn wie kann es Glück ohne Selbstachtung geben?

 

Deutsche Übersetzung Andreas Huettl für The Zero, Oktober 2003



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