Der Rächer des mißbrauchten Kindes

Im Gerichtssaal und in seinen Büchern kämpft Andrew Vachss gegen die "scheußlichen Vampire", die Jagd auf Kinder machen.

von Kelly Luker

Erschien ursprünglich in Sober Times, September 1992

Sober Times: Warum haben Sie Ihr Leben dem Kampf gegen den Kindesmißbrauch gewidmet?

Andrew Vachss: Ich denke, man kann mit seinem Leben zwei Dinge tun: Man kann seine Zeit in der Introspektive verbringen oder man kann etwas tun. Die Zeit, die ich bräuchte, um herauszufinden, warum ich das tue, wäre sinnlos vergeudet. Ganz sicher hat mich auch noch kein Klient danach gefragt. Es ist eine Frage für Cocktail-Partys — die wirklich wichtige Frage ist nicht: warum tue ich es, sondern: Warum tun Sie es nicht?

Sober Times: Als Sie vor ungefähr 25 Jahren damit anfingen, betrachtete die Gesellschaft Inzest und Kindesmißbrauch als nicht vorhanden. Sind Sie von den Statistiken, die jetzt zitiert werden, überrascht?

Andrew Vachss: Ganz bestimmt nicht!

Sober Times: Halten Sie es für zutreffend, wenn in einigen Quellen behauptet wird, eine von vier Frauen sei sexuell mißbraucht worden?

Andrew Vachss: Ich halte das für sehr grob geschätzt. Außerdem ist Genauigkeit kein passendes Kriterium für ein Verbrechen, das fast immer im Verborgenen geschieht. Bei diesem Verbrechen wird dem Opfer ein Gefühl der Komplizenschaft gegeben. Bei diesem Verbrechen wird dem Opfer sehr selten Glauben geschenkt. Dieses Verbrechen erfährt keine Quantifizierung wie z.B. Einbruchsdiebstahl. Versicherungsfirmen erstellen keine genauen Statistiken. Dieses Verbrechen steht nicht einmal auf dem FBI-Index. Man nimmt die Anzahl bekannter Fälle und multipliziert sie. Zum Beispiel: 10 Prozent aller Fälle werden bekannt, also multiplizieren wir diese Zahl mit 10. Eine von vier hört sich für mich ehrlich gesagt etwas viel an. Bei Prostituierten ist die Wahrscheinlichkeit viel höher. Es kommt drauf an, aus welchem Pool man schöpft.

Sober Times: Wie erklären Sie sich, daß so viele Erwachsene in ein derart tabuisiertes Verhalten verstrickt sind?

Andrew Vachss: Als Allererstes: Wer sagt, daß es ein Tabu ist? Das ist vielleicht die Message der Medien, es ist nicht die Realität. Die Message ist in Wirklichkeit: "Das ist ja gar nicht so schlimm. Wenn es auch noch Dein eigenes Kind ist, erst recht nicht." Sehen Sie sich die Gesetze an. Erklären Sie mir doch mal den Unterschied zwischen der sexuellen Belästigung eines fünfjährigen Mädchens, das bei Ihnen um die Ecke wohnt, und der sexuellen Belästigung Ihrer eigenen fünfjährigen Tochter. Das eine nennen wir sexuellen Mißbrauch, Vergewaltigung oder Sodomie, und wollen den Täter ins Gefängnis schicken. Das andere nennen wir "familliäre Fehlfunktion" oder "Inzest" — ist das nicht ein süßes Wort — und schicken den Täter gleich mal in Therapie.

Sober Times: Können Sie kurz das psychologische Profil einer Mutter oder eines Vaters beschreiben, die ihre Kinder mißhandeln?

Andrew Vachss: Im Grunde sind das Soziopathen. Entweder entbehren sie jeglicher Empathie oder sie haben sie so vollständig unterdrückt, daß sie ihren Wünschen ohne Rücksicht auf das Opfer nachgehen können. Das ist das grundlegende Element jeden solchen Verbrechens.

Sober Times: Gibt es gemeinsame Merkmale von Kinderschändern?

Andrew Vachss: Grundlegendes Merkmal ist die vollständige Konzentration auf das Selbst. Sich nur um sich selbst kümmern. Völlige Gleichgültigkeit gegenüber den Konsequenzen ihrer Handlungen und den Schmerzen anderer. Sie neigen dazu, äußerst manipulativ zu sein. Sie sind oftmals intelligenter als der gewöhnliche Kriminelle. Besser ausgebildet, sehr gut maskiert, so daß sie überall hinkönnen. Es sind oft Experten für Tarnung, die ihrer kriminellen Tätigkeit mit einer Obsession nachgehen, die kein anderer Krimineller aufbringt. Sie studieren die Kinder — sie sind unglaublich gute Diagnostiker. Ein räuberischer Pädophiler, der eine Zeitlang dabei ist — setzen Sie den in eine Tagesstätte und nach einer Stunde sagt er Ihnen, welches Kind zu Hause Probleme hat oder aus einer geschiedenen Ehe stammt, wessen Eltern Alkoholiker sind, welches mißbraucht wurde. Sie sind Räuber. Sie studieren ihre Beute.

Sober Times: Wenn Sie die Gesetze über Kindesmißbrauch ändern könnten, was würden Sie tun?

Andrew Vachss: Zuerst würde ich mal die Einsätze erhöhen. Zur Zeit ist das ein billiges Geschäft mit sehr geringem Risiko. Es ist verrückt, daß man in diesem Land lebenslänglich kriegt für den Besitz eines Stücks Kokain, wenn man sein Kind mißbraucht und ein Video davon macht, aber mit Bewährung davonkommt.
Danach kommt eine ganze Reihe von Unterpunkten wie z.B. eine nationale Datenbank für verurteilte Kinderschänder. Den Ausstieg aus den unsinnigen "Rehabilitationsprogrammen", welche Unsummen aus den Budgets ziehen ohne irgendwelche Ergebnisse zu bringen. Bessere Ausbildung für die Sozialarbeiter, die jetzt die Nachforschungen machen sollen. Kombinierte Polizei- und Sozialarbeiter-Teams, anstatt zu sagen: Ihr macht die Reha und Ihr ermittelt. Das ist bescheuert. Die schizophrene Rolle der Sozialarbeiter muß aufhören. Die sollen Täter rehabilitieren und gleichzeitig Opferschutz leisten, eine völlig unmögliche Aufgabe.

Sober Times: Sie schätzen die Wahrscheinlichkeit der Rehabilitation von Tätern recht gering ein.

Andrew Vachss: Weil ich die Annahme einer möglichen Rehabilitation als unberechtigt betrachte. Man muß zwischen verschiedenen Mißbrauchern unterscheiden; es gibt grundsätzlich drei Typen. Zum einen die Überforderten — Leute, die einfach nicht wissen, was es heißt, Eltern zu sein. Das Paradebeispiel ist ein zwölfjähriges Mädchen mit einem Baby. Ein Alkoholiker ist ein perfektes Beispiel. Sie mögen die wohlmeinendsten Eltern der Welt sein, aber Leute, die im Bett rauchen, sind für jedes Kind eine Gefahr. Außerdem haben sie eine niedrige Frustrationschwelle, all diese Dinge. Für diese Überforderten ist meiner Meinung nach eine Rehabilitation sehr gut möglich, mit sehr großem Erfolg. Dann gibt es noch die Irren — damit meine ich ausgewiesene Geisteskranke — Schizophrene und ähnliches, die Eltern sind. Solche Leute können einen Nutzen ziehen, in dem Maße, wie die Psychiatrie eine Antwort auf ihre jeweilige Störung kennt. Das heißt: Wir sind sehr gut im Umgang mit zwanghaften Charakteren, wir sind richtig lausig, wenn es darum geht, die Kinder Schizophrener zu schützen. Die dritte Kategorie — da verlasse ich den Weg der Sozialarbeiter. Das sind böse Leute — Leute, die Kinder zu ihrem eigenen Vergnügen verletzen, oder um damit Geld zu verdienen. Leute, die mit Kindern Sex haben. In diesem Zusammenhang von Rehabilitation zu reden ist lächerlich. Es gibt keinerlei Hinweise darauf, daß jemals einer von denen rehabilitiert wurde. Der schärfste Gedanke, den es aktuell gibt: Man kann sie nicht rehabilitieren, aber man kann ihnen innere Kontrollen geben.

Sober Times: Was würden Sie mit denen machen?

Andrew Vachss: Ich würde dasselbe mit ihnen tun, wie mit jemandem, der Typhus hat. Oder mit einer Wagenladung Giftmüll.

Sober Times: Sie töten?

Andrew Vachss: Nein.

Sober Times: Sie wegbringen?

Andrew Vachss: Ja. Ich würde sie isolieren. Ich habe nicht den Wunsch, jemanden zu töten oder zu foltern. Ich wäre vollkommen glücklich, wenn man sie isolierte, meinetwegen mit Farbfernsehen und einem schönen Fitnessraum, was immer sie wollen. Und ich wäre gern bereit, die ganzen Reha-Experimente weitergehen zu lassen — hinter Gittern. Aber sie zu recyceln, zurück in die Gesellschaft zu bringen, damit sie wieder auf Beutezug gehen können, nein.

Sober Times: Wie kommt es, daß wir uns mehr um die Rechte der Täter kümmern als um die Kinder?

Andrew Vachss: Die Täter wählen, die Kinder tun das nicht.

Sober Times: Viele Frauen haben bis ins Erwachsenenalter keine Erinnerungen an den Mißbrauch. Dann können sie keine Klage mehr einreichen, weil das Verbrechen verjährt ist. Sind Sie für eine Änderung der Verjährungsfristen?

Andrew Vachss: Natürlich. Ein Trauma ist doch nichts anderes als Narbengewebe auf der Erinnerung. Es versteht sich von selbst: wenn ein Täter mit dem Opfer gute Arbeit leistet, steht er außerhalb des Gesetzes. Das macht keinen Sinn. Ich würde die Verjährungsfrist von dem Zeitpunkt an berechnen, wo der Mißbrauch entdeckt wurde.

Sober Times: Ich habe kürzlich etwas über eine Gegenbewegung gelesen, ich glaube, sie nennen sich die False Memory Syndrome Foundation (Stiftung Falsche-Erinnerung-Syndrom). Wie sehen deren Interessen aus?

Andrew Vachss: Das weiß ich nicht. Ich analysiere andere Leute nicht. Ein Teil ihres Interesses könnte unternehmerischer Art sein — das ist ein Riesengeschäft. Therapie und Verteidigung von Kinderschändern ist die Wachstumsindustrie der Neunziger. Als Drogenanwalt kann man heute kein Geld mehr verdienen.

Sober Times: Wie hat die sich Arbeit in diesem "Sumpf" der Gesellschaft auf sie persönlich ausgewirkt?

Andrew Vachss: Ich weiß nicht. Wie ich schon sagte, das wäre ein introspektives Spielchen. Alles, was es über mich zu wissen gilt, ist: Ich frage nicht nach Geld und ich bin nicht scharf auf ein öffentliches Amt — was gibt es weiter über mich zu erfahren? Für mich ist es nur wichtig, effektiv zu sein. Sehen Sie sich Lichtstrahlen an: die effektivsten sind die Laserstrahlen, weil sie konzentriert sind.

Sober Times: Sie sagen selbst, daß Sie sich mit Ihrer Arbeit Feinde gemacht haben. Können Sie uns beschreiben, wer diese Feinde sind?

Andrew Vachss: Das kann ich nicht, weil die sich nicht interviewen lassen. [Das sind] Leute, die mir Drohbriefe schicken - ohne Unterschrift - oder mich telefonisch belästigen. Die Leute, die mir diese verrückten "Inzest macht Spaß"-Briefe schreiben. Ich kriege jede Menge Briefe von angeblichen Opfern, wo drinsteht "Daddy war der beste Fick, den ich je hatte". Leute, die sich in Reha-Gruppen befinden, beschweren sich, daß ihnen eine Bewährung verloren ging, weil der Richter eines meiner Bücher gelesen hat. Leute schreiben mir Beileidskarten mit den Worten "Tut mir so leid wegen dem Tod Ihrer Familie" oder sie verschicken Bilder von mir mit einem Fadenkreuz über dem Gesicht. Die sind offensichtlich aufgeregt und verärgert, das tut mir sehr gut.

Sober Times: Wie viel von Burke steckt in Ihnen und umgekehrt?

Andrew Vachss: Was weiß ich? Wir haben den selben Geschmack, was Frauen, Pferde und Musik angeht.

Sober Times: Mir ist aufgefallen, daß die Frauen in Ihren Romanen niemals perfekte Schönheiten sind. Sie beschreiben sie als stark, pummelig, kräfig, usw.

Andrew Vachss: Sie sehen aus, wie Frauen eben aussehen. Ich kenne niemanden, der jemals so eine Reihe perfekter Leute kennengelernt hätte. Diese Konzentration auf Körperteile als Liebesbeweis finde ich etwas dümmlich.

Sober Times: Haben Sie selber Kinder?

Andrew Vachss: Nein. Ich habe mich vor langer Zeit einer Vasektomie unterzogen. Die hat funktioniert.

Sober Times: Weil Sie gesehen haben, was mit Kindern geschah?

Andrew Vachss: Ich glaube nicht.

Sober Times: Irgendwelche aufmunternden Worte an unsere Leser, die sich von sexuellem Mißbrauch in der Kindheit erholen?

Andrew Vachss: Böse zu sein, ist eine Entscheidungssache. Jene Leute, die zum Opfer gemacht wurden ohne jetzt den Aggressor zu imitieren, sind meiner Meinung nach die größten Helden, die es gibt. Ich glaube nicht an Vergebung, und ich glaube nicht, daß sie der Weg zur Heilung ist. Ich glaube an Rache und daran, daß sie heilen hilft. Ich denke, eines der Dinge, die Leute zu Säufern, Junkies oder etwas ähnlich Autoaggresivem werden läßt, ist das Schuldgefühl und ein beschädigtes Selbstbewußtsein. Was ich den Leuten immer sage, ist: Jedes Mal, wenn Du eine Dummheit machst, gewinnen die. Es ist ein Kampf. Du bleibst in diesem Kampf, bis er zu Ende ist. Du wirst vielleicht nie mit der Person abrechnen, die Dich verletzt hat, aber Du kannst zum Schutz anderer beitragen, mit dem Ergebnis, daß sie [die Täter] nicht gewinnen — daß sie sich nicht wie die abstoßenden Vampire vermehren, die sie in Wirklichkeit sind.

Sober Times: Sehen Sie irgendwo Hoffnung?

Andrew Vachss: Selbstverständlich! Als ich in diesem Geschäft anfing, hätten wir dieses Gespräch nicht führen können. Das ganze Konzept der Strafverfolgung von Kinderschändern war sozusagen unbekannt. Inzest-Strafverfolgung gehörte ins Reich der Phantasie. Unsere Mittel und Werkzeuge waren absolut unzureichend. Damals wurde nicht mal über das Syndrom des geschlagenen Kindes gesprochen. Jetzt, da die Medien das alles für bare Münze nehmen — ja, es gibt eine Gegenbewegung, mit der rechnen wir auch. Aber das Pendel hat sich von dort, wo es mal war, weit, weit fortbewegt. Wir sind nicht am Gewinnen, aber wir werden gewinnen. Nicht zu unseren Lebzeiten. Es ist ein langsamer Prozeß, hier ein Tröpfchen, da ein Tröpfchen. Die Dinge sind besser geworden. So schlimm es jetzt auch ist, für Kinder liegen die Dinge heute viel besser als noch vor zwanzig Jahren.

Sober Times: Sie betrachten sich selbst nicht als Schriftsteller. Haben Sie sich denn einfach eines Tages einen Stift gegriffen und es geschehen lassen? Haben Sie Unterricht genommen?

Andrew Vachss: Nein, nein. Ich betrachte mich nicht als Schriftsteller, weil ich nur über meine Arbeit schreibe. Wenn Sie mir eine Auftragsarbeit gäben, könnte ich Ihr Geld unmöglich annehmen.

Sober Times: Aber Sie basteln jedes Mal wieder einen kompletten Plot zusammen. Das ist nicht so einfach.

Andrew Vachss: Kann sein, aber ohne meine spezielle Motivation könnte ich kein Wort schreiben.

Sober Times: Wann erscheint Ihr nächstes Comic-Buch?

Andrew Vachss: Vor ein paar Tagen ist gerade ein Neues erschienen. Sie erscheinen alle paar Monate.

Sober Times: Was unterscheidet das Comic-Schreiben von den Romanen?

Andrew Vachss: Es gibt da ein anderes Publikum, dafür bin ich sehr dankbar. Ich kann mit den Comics Leute erreichen, die ich andernfalls nie hätte erreichen können; das gefällt mir sehr gut.

 


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